2012-05-20

Schreibtherapie

In Deutschland und auch in England wird Fußball sehr oft als Ersatzreligion angesehen. Doch ich bin weit davon entfernt, einer Fußballmannschaft zu huldigen. Für mich trifft das russische Wort für "Fan sein" die Sache viel eher auf den Kern: болеть (ausgesprochen bolet' mit weichem t am Ende), bedeutet eigentlich  "krank sein".

Wie bei jeder psychischen Krankheit ist es wichtig, dass man sich eingesteht, dass man krank ist. Das ist für viele Fußballfans nicht selbstverständlich. Ein Heilmittel ist es nicht, doch es ist wichtig, um die Symptome zu bekämpfen. Die meisten Fans wollen ohnehin nicht gesund werden. Fußball ist eine Krankheit mit Höhen und Tiefen, doch anders als bei der bipolaren Depressionen sind die Höhen mindestens genauso hoch wie die Tiefen tief. Gesund werden hieße zwar schlafen können nach Spielen wie gestern Nacht, aber es hieße auch, einen Sieg wie 2001 einen Tag später zu vergessen. Ein Fan kann aber von solchen Siegen noch Jahre lang zehren, sie sind auch beim hundertsten durchspielen der Höhepunkte auf YouTube eine Quelle für Glückshormone.

Doch dann gibt es natürlich die Kehrseite der Medaille: grosse Niederlagen. Zum Glück sind sie relativ selten (und zwar unabhängig davon, welchem Verein man die Treue hält). Denn eine Niederlage, selbst im Finale, ist noch nicht unbedingt eine grosse. 2010 hat Bayern ein Finale verloren. Es war - schade. Mehr nicht. Die grossen Niederlagen sind vor allem die unverdienten. Hier zeigt Fußball dem Fan seine grausame Fratze. Die Niederlage 1999 galt bis gestern als die allergrösste. Doch die gestrige hat sie wohl noch übertroffen.

Und so leidet der Fan, anstatt zu feiern. Jeder für sich alleine, denn Niederlagen kann man, anders als Siege, kaum kollektiv verarbeiten. Mancheiner säuft sich bis zur Bewusstlosigkeit, manch anderer hilft sich mit Baldrian. Wer Glück hat, schläft heute Nacht ein. Ich versuche es mit Schreibtherapie. Viel helfen wird es natürlich nicht. Das einzige, was wirklich hilft, ist Zeit.

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